Im November letzten Jahres hatte ich über die Gaststätten „Zum Schwan“ bzw. „Am Schwan“ berichtet und gegen Ende geschrieben, in einem späteren Artikel über gruselige Geschichten, die sich dort abgespielt haben sollen, zu berichten. Hier geht es um Räuberbanden, Mord und Spuk.
Widmen wir uns zunächst den Räuberbanden. Im 19. Jahrhundert herrschte in dieser Gegend ein lebhafter Fuhrwerksbetrieb, da es noch keine Eisenbahn und keine modernen Verkehrsmittel gab. Der alte Schwan lag günstig auf der Strecke von Wesel über Voerde, Overbruch und Hamborn nach Duisburg (die heutige Walsumer Straße). Da man wegen des schlechten Zustands der Straßen und der Unsicherheit während der Dunkelheit nachts nicht gerne reiste, war die Gaststätte Absteigequartier für Händler und Kaufleute. Hier gönnten sie sich und ihren Pferden eine Pause. Dies nutzte eine Räuberbande, die ihre Aktivität von der Straße in die Wirtschaft verlegte und zum Schrecken der Händler wurde. Die Bande ließ die Gäste eintreten, und wenn sie sich sicher und geborgen fühlten, raubte sie diese aus. Ob diese Geschichte der Wahrheit entspricht, lässt sich leider nicht sagen.
Wesentlich dramatischer ging es zu, als die Wirtsleute selber zu Verbrechern wurden und auch vor Mord nicht zurückschreckten. Die Kenntnisse hierüber haben wir Herrn Dr. Heinrich Neuse zu verdanken, der im Jahre 1914 im 2. Maiheft der Zeitschrift „Der Niederrhein : Illustrierte Halbmonatschrift für Arbeit, Art und Kunst der nördlichen Rheinlande“ in plattdeutscher Sprache unter dem Titel „Zum niederrheinischen Volksaberglauben“ hierüber berichtete.
Die Überschrift „Dom’s Mööj“ ist die plattdeutsche Bezeichnung für Muhme Doom. Mit „Muhme“ bezeichnete man ursprünglich die Schwester der Mutter in Abgrenzung zum Begriff „Tante“, womit die Schwester des Vaters gemeint war. In unserer Geschichte dürfte wohl eine ältere Frau darunter zu verstehen sein. Unterschiedliche Schreibweisen für Namen waren zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches. Neben den Schreibweisen „Dom“ und „Doom“ findet sich auch „Daems“ – in späteren Artikeln auch „Dohm“ und „Doomen“.
Diese Familie war im 17. und 18. Jahrhundert Besitzerin des Schwans. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Familie in finanzielle Schwierigkeiten. Und in diese Zeit gehören wohl die Ausführungen von Dr. Neuse.
Die Wirtsleute, Sohn und Schwiegertochter der Muhme Dom, sollen nachts ihre schlafenden Gäste erschlagen und ihnen das Geld geraubt haben. Anschließend sollen sie die Leichen verscharrt haben. Besonders dramatisch war das Schicksal eines Fuhrmanns, der viel Geld dabei hatte, um einen Landkauf zu bezahlen. Er bezog Quartier im Schwanen, wurde danach aber nicht mehr lebend gesehen. Bald schon ging das Gerücht, dass er ausgeraubt, ermordet und im Backofen verbrannt worden sei. Muhme Dom, die von den bisherigen Taten wohl gewusst hatte, wurde es nun aber zuviel. Sie drohte den beiden, dies anzuzeigen, wenn sie nicht mit ihren Taten aufhören. Doch das Ehepaar ließ sich davon nicht beeindrucken und ermordeten ihre eigene Mutter bzw. Schwiegermutter. Bei Nacht und Nebel verscharrten sie die Leiche in einer Sandkuhle. Doch die Haare der Toten wuchsen weiter und kamen zum Vorschein. Somit wurde die Leiche entdeckt. Das Mörder-Ehepaar wurde daraufhin verhaftet, verurteilt und schließlich geköpft.
Die beiden Toten jedoch fanden lange keine Ruhe. Jedes Jahr in der Mordnacht stieg die Muhme aus der Sandkuhle und ging zum Schwanen, stieg in den Keller und suchte dort nach den Gerippen der Ermordeten. Da sie jedoch nichts fand, ging sie wieder zurück, um im folgenden Jahr in der Mordnacht wieder zu suchen. Auch der tote Fuhrmann fand lange Zeit keine Ruhe, da er kein Totenhemd bekommen hatte: Man hat ihn oft gesehen, wie er nachts mit brennenden Kleidern – als leuchtendes Gespenst – um das Backhaus ging.
Die Geschichte wurde übrigens in bebilderten Kacheln festgehalten, die an der Theke der heutigen Wirtschaft „Zum Schwan“ bewundert werden können.
Inwieweit die Sage zum Untergang des Hauses beigetragen hat, lässt sich nicht ermitteln. Jedenfalls hat der Nachbesitzer, der Schöffe und Bürgermeister Rothengatter aus Holten, den Niedergang nicht aufhalten können, so dass der Betrieb eingestellt wurde. Das genaue Datum konnte nicht festgestellt werden.
Wie lange die beiden Toten aktiv blieben, ist unbekannt. Vielleicht endete der Spuk mit dem Bau des neuen Schwans Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens jedoch, nachdem der alte Schwan im Oktober 1906 abgebrannt war. Hatte vielleicht der tote Fuhrmann mit seinen brennenden Kleidern das Gebäude in Brand gesetzt?
Folgende mündliche Überlieferung bietet ein anderes Bild der Muhme. Nachdem die Hamborner Volkszeitung am 2. September 1920 diese Geschichte veröffentlicht hatte – ausgeschmückt mit einigen Details, die sich bei Dr. Neuse nicht finden –, erhielt sie nach eigenen Angaben zahlreiche Zuschriften. Den Inhalt einer davon gab sie in ihrer Ausgabe vom 30. September 1920 wieder, wobei es sich um die Ausführungen „eines alten Walsumers“ handeln soll. Danach hatte die Mutter bzw. Schwiegermutter eine aktive Rolle bei den Machenschaften gespielt. So überkam einem reisenden Kaufmann, der dort übernachtete, eine Unruhe, weshalb er nicht einschlafen konnte. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür und die Muhme schaute herein, um zu sehen, ob er noch wach sei. Nun konnte der Kaufmann erst recht nicht schlafen. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür erneut und die Muhme erschien mit einem großen Messer in der Hand. Nachdem sie festgestellt hatte, dass er immer noch wach war, verließ sie das Zimmer. Der Gast jedoch hatte genug: Er zog sich rasch an, kletterte aus dem Fenster und holte sein Pferd aus dem Stall. Obwohl ihn die Söhne der Besitzerin verfolgten, konnte er entkommen. Noch weitere Taten der Familie, insbesondere der Söhne, werden genannt wie Scheunenbrände, Überfälle auf Gehöfte und Quälen der Bewohner, damit diese ihr Geldversteck verraten. Auch die Ermordung der Mutter wird hier anders dargestellt: Sie wurde von Gewissensbissen wegen ihrer Straftaten geplagt. Da sie immer mehr jammerte, fürchteten die Kinder (nicht Sohn und Schwiegertochter), dass sie alles verraten könnte und brachten sie daraufhin um. Von nächtlichen Wanderungen in der Mordnacht ist in dieser Version nicht die Rede.
Wie es bei mündlichen Überlieferungen in der Regel der Fall ist: Etwas Wahres wird wohl dran sein und die Sagen regen die Phantasie an.