Die Ursprünge der „weißen Siedlung“ in Vierlinden reichen in das Jahr 1932 zurück. Fertiggestellt wurden die Häuser im folgenden Jahr, so dass sie in diesem Jahr 90 Jahre existieren. Ein kurzer Rückblick soll an die Anfänge der Siedlung erinnern.
Auch wenn der Bau der Siedlung in das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung fällt, stehen Planung und Bau in keinem Zusammenhang mit den damaligen Machthabern. Denn bereits am 28. Juli 1932 fand sich auf der Schachtanlage der Bergwerksgesellschaft Walsum, die zu dieser Zeit in der Thyssenschen Gas- und Wasserwerke GmbH (TGW) eingegliedert war, folgender Aushang: „Wir haben Verhandlungen dahingehend aufgenommen, unseren Werksangehörigen, sowohl den vorhandenen als auch den vorübergehend abgekehrten, die Möglichkeit zu schaffen, die Reichsmittel zu Siedlerstellen mit Eigenheim zugänglich zu machen.“ Mit den „vorübergehend abgekehrten Werksangehörigen“ waren die gemeint, deren Arbeitsvertrag beendet war und das Bergwerk verlassen hatten. Die vom Gesetzgeber bereitgestellten Reichsmittel sollten Personen mit geringen finanziellen Möglichkeiten eigene Heime und Lebensinhalt geben. Diese sollten trotz der schweren Arbeit stolz und zufrieden auf ihre Leistungen am Haus und in ihrem Garten sein und ihre Kinder in einer Siedlung besser aufgehoben wissen als in städtischen Hinterhöfen.
Mehrere Gründe dürfte die Bergwerksgesellschaft Walsum zu diesem Schritt bewogen haben. Da die Zahl der Arbeitslosen im Jahre 1932 teilweise über sechs Millionen betrug (die Gesamtbevölkerungszahl lag bei der Volkszählung am 16. Juni 1933 bei knapp über 65 Millionen), befürchtete die Industrie, dass die in früheren Zeiten in das Ruhrgebiet eingewanderten Facharbeiter wieder abwandern könnten, die dann beim erhofften Aufschwung fehlen würden. Um das zu verhindern, wollte man die Arbeiter durch Eigenheime im Rahmen von Siedlungen an ihren Arbeitsort binden.
60 Schachtangehörige meldeten sich aufgrund des Aushangs, weitere 40 Interessenten kamen aus anderen Bereichen Thyssens, insbesondere von der TGW in Hamborn, dazu. Für die Vergabe existierte nur eine Bedingung: Der Bewerber musste verheiratet sein. Im Dezember stellte dann die Bergwerksgesellschaft Walsum ca. 68.100 qm zur Errichtung von 100 Kleinsiedlerstellen zur Verfügung. Damit war der Startschuss für die erste Siedlung dieser Art in Walsum gefallen. Die Siedler wurden Erbpächter der Grundstücke und Eigentümer der darauf errichteten Gebäude. Bei dem Areal, auf dem die Siedlung erbaut wurde, handelte es sich um ehemaliges Ackerland des Bremmekampschen Hofes (Bremmen sind Ginster- und Brombeersträuche), der an der Feldstraße lag.
Mit den Arbeiten wurde noch 1932 begonnen. Die überwiegend arbeitslosen Siedler errichteten die Häuser gemeinschaftlich. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, in welches Haus er später einziehen wird, da diese erst nach Fertigstellung der Rohbauten verlost wurden. Da niemand wusste, in welches Haus er einziehen würde gab es keinen Pfusch am Bau. Es wurde lediglich zwischen Häuser für Kinderreiche und Nichtkinderreiche unterschieden, wobei eine Familie ab vier Kinder als kinderreich galt. Ab Oktober 1933 waren die Häuser fertiggestellt; das letzte Haus wurde am 31. Dezember 1933 bezogen. Nach Fertigstellung der Häuser hat Thyssen die Siedler, die arbeitslos waren, übernommen.
Die Häuser wurden mit Ziegelsteinen errichtet, da sich diese durch gute Wärme- und Schalldämmung sowie durch Feuchtschutz und Brandsicherheit auszeichnen. Die einzige Wärmequelle im Haus war der Küchenherd. Im Winter wurden Ziegelsteine auf dem Ofen erwärmt, in Tücher verpackt und vor dem Schlafengehen zum Anwärmen in die Betten gelegt. Die Toilette befand sich in der hinteren äußeren Ecke des Erdgeschosses und besaß keine Wasserspülung. Die Fäkalien wurden in eine in der unmittelbaren Nähe des Hauses gelegenen Sickergruben („Aalskuhle“) geleitet, die von Zeit zu Zeit per Hand entleert und deren Inhalt im Garten verteilt wurde. Erst 1953 wurde die Siedlung an das kommunale Kanalisationsnetz angeschlossen.
Das Haus Theodorstraße 21, ca. 1934.
Bild: Archiv des Heimatverein.
Da die verputzten Häuser alle einen weißen Anstrich erhielten, wurde die Siedlung „weiße Siedlung“ genannt. Die Vorgärten zur Straßenseite waren alle gleichmäßig mit einer hüfthohen Ligusterhecke gesäumt. Durch diese Gleichartigkeit wahrte die Siedlung eine Einheitlichkeit; individuelle Profilierungen wurden weitgehend verhindert. Mit der im Volksmund auch „Micky-Maus-Siedlung“ genannte Bezeichnung wird auf die begrenzten Ausmaße der Zechenhäuser angespielt, in denen es sehr eng war: Die Wohnfläche war begrenzt, und die Zimmer hatten eine einheitliche Größe von drei mal vier Meter. Von den beiden im schrägen Dachgeschoss gelegenen Zimmern war im Bauplan nur eines als Kinderzimmer vorgesehen. Wer ein Wohnzimmer haben wollte, der musste das zweite Dachzimmer selbst ausbauen.
Neben, vor und hinter den Häusern gab es Nutz- und Vorgärten; durch Obst- und Gemüseanbau sollten die Lebenshaltungskosten gesenkt werden. Die Gärten mussten gepflegt werden, sonst konnte die Siedlerstelle entzogen werden. Daneben hielten viele Bewohner Tiere wie Hühner, Kaninchen, Enten und Gänse; manche sogar ein Schwein.
Den ursprünglich für 60 Jahre gepachteten Boden hat 1971 der Grundeigentümer, die damalige Bergwerksgesellschaft Walsum AG, an die Erbpächter beziehungsweise deren Erben veräußert. Der wesentliche Grund für den Verkauf lag in den hohen Kosten, die aus der Verwaltung der Liegenschaften entstanden.
Da die Siedlung nicht unter Denkmalsschutz steht, kam es im Laufe der Zeit zu zahlreichen Veränderungen, z. B. durch Um- und Anbauten, unterschiedliche Verklinkerungen und uneinheitliche Vorgartengestaltungen. Die meisten Ligusterhecken sind mittlerweile beseitigt, und Vorgärten wurden in Autostellplätze umgewandelt. Dadurch ist das ursprüngliche einheitliche Erscheinungsbild abhanden gekommen. Dennoch ist die Siedlung auch heute noch eine „Insel“, die versteckt hinter langen und breiten Straßen liegt, die mit Wohnblocks gesäumt sind.
Zwei Bauwerke fallen in der Stadtrandsiedlung besonders auf: der Bunker und das Kreuz an der Hermannstraße.
Der in den Jahren 1940 und 1941 gebaute massive Luftschutzbunker war notwendig, da die Häuser in der Siedlung wegen des hohen Grundwasserspiegels ohne Keller gebaut worden waren. Deshalb erhielt jede Siedlerfamilie in dem Bunker ihren festen Kabinenplatz. Gebaut wurde er von einem Siedler mit Hilfe von 20 bis 30 französischen Kriegsgefangenen und einigen freigestellten deutschen Soldaten. Er verfügt über fünf Stockwerke, wobei vier Etagen mit je vierzehn Kabine ausgestattet waren, jede davon mit zwei Dreierbetten übereinander. Auf jeder Etage befanden sich Toiletten und Waschgelegenheiten sowie eine Kochküche. Der Bunker wurde zentral mit Koks beheizt.
Im Verlaufe des Krieges wurde er immer mehr Zufluchtsort für Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung. Die oberste (fünfte) Etage war kein Schutzraum, sondern sollte als Verpuffungszone für den Fall eines Volltreffers dienen. In den letzten Tagen des Krieges befand sich dort noch ein deutscher Artilleriebeobachtungsposten.
Nach dem Krieg (1946/47) diente der Bunker vorübergehend als Gefängnis, weil das Gefängnis in der Kreisstadt Dinslaken zerstört war. Deshalb wurde eine Mauer um den Bunker errichtet.
Das Kreuz wurde von dem Siedler Robert Brand errichtet. Dieser hatte sich in russischer Kriegsgefangenschaft befunden. Dort gelobte er für den Fall seiner Heimkehr, zuhause ein Kreuz zu errichten. Dieses verwirklichte er auf seinem ehemaligen Grundstück an der Hermannstraße. Der auf dem Kreuz befindliche Korpus ist ein Werk der Ursiedlerin Maria Greis, die unmittelbar gegenüber dem Kreuz gewohnt hat und künstlerisch begabt war.
Auf der Platte unten steht: „Für die Opfer der Siedler des zweiten Weltkrieges 1939 – 1945“; Aufnahme vom 02. Juni 2023.
Bild: Ulrich Kirchner