Am 27. April 1923 wurde der Walsumer Bürgermeister Dr. Johannes Hoeveler vom belgischen Kriegsgericht in Sterkrade verurteilt:
Sechs Monate Gefängnis und 200.000 Mark Geldbuße. Er wurde sofort verhaftet. Was waren die Gründe für seine Anklage und Verurteilung?
Dr. Johannes Hoeveler wurde am 15. August 1872 in Horst, Kreis Hattingen, geboren und schlug nach dem Besuch des Duisburger Gymnasiums die Verwaltungslaufbahn ein. Auf dem Landratsamt in Ruhrort war er zunächst 1,5 Jahre als Volontär tätig, bevor er 1893 als Supernumerar (Beamtenanwärter) in Düsseldorf eingestellt wurde. Vier Jahre später wurde er wieder zum Landratsamt in Ruhrort versetzt, wo er im Steuerfach tätig war. Im Jahre 1900 erfolgte die Beförderung zum Kreissekretär beim Königlichen Landratsamt Ruhrort. Als am 1. April 1905 Walsum aus dem Amtsbereich der Landbürgermeisterei Dinslaken ausschied und selbstständige Bürgermeisterei wurde, betraute ihn der Oberpräsident der Rheinprovinz mit deren Verwaltung. Damit war er Walsums erster hauptamtlicher Bürgermeister. Diese Aufnahme zeigt ihn im Jahr des Amtsantritts 1905.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten die Besatzungstruppen infolge des Waffenstillstandes und auf Grundlage der Bestimmungen des Versailler Vertrages Gebiete des Deutschen Reiches besetzt. Zu einer Ausweitung der Besetzung kam es in den Jahren 1920 und 1921, da das Deutsche Reich die auferlegten Verpflichtungen nur schleppend erfüllte. Neben Düsseldorf und Duisburg war auch Walsum betroffen. Am 9. März 1921 rückte eine 120 Mann starke Kompanie belgischer Radfahrer in Walsum ein.
Als das Deutsche Reich in der Folgezeit mit den Reparationszahlungen nicht mehr nachkam, nutzte Frankreich dies, um das gesamte Ruhrgebiet militärisch zu besetzen. Am 11. Januar 1923 rückten belgische und französische Truppen ein.
In Walsum setzte sich die Besatzungstruppe aus drei Offizieren, neun Unteroffizieren, 150 Soldaten und 21 Familienangehörigen zusammen. Deren Unterbringung erfolgte in der evangelischen Volksschule in Aldenrade und weiteren Einzelquartieren wie Kasernen, Gaststätten und Privatwohnungen, die beschlagnahmt wurden.
Die deutsche Reichsregierung rief die Bevölkerung nach der Besetzung des Ruhrgebiets zum passiven Widerstand auf. Diesem Aufruf folgten viele Menschen: Arbeiter, Beamte, Handwerker und Kaufleute ignorierten die Anweisungen der Besatzer. Am 29. Januar 1923 verschärften diese den Belagerungszustand: Bei Zuwiderhandeln und Nichtbeachtung drohten Festnahmen, Geldbußen und Ausweisung aus dem besetzten Gebiet.
Diese Strafen ereilten den Walsumer Bürgermeister Dr. Johannes Hoeveler (Deutsche Zentrumspartei). Ihm wurde vorgeworfen, dass er einerseits die Aushängungen von Verordnungen des französischen Generals Jean-Marie Joseph Degoutte verweigert und andererseits das Ankleben von gegen die Besatzung gerichtete Plakate geduldet habe. Hoevelers Anwalt argumentierte, dass sich die deutschen Beamten in einen Gewissenskonflikt befinden würden, da sie sich moralisch verpflichtet fühlten, den Anordnungen ihrer Regierung zu folgen. Doch diese Argumentation folgte das Gericht nicht: Am 27. April 1923 verurteilte das belgische Kriegsgericht in Sterkrade Hoeveler zu sechs Monaten Gefängnis und 200.000 Mark Geldbuße. Er wurde sofort verhaftet und in die Landeshaftanstalt in Düsseldorf gebracht.
Maria Hoeveler, die Schwester des Bürgermeisters, hat 1968 die Begebenheit wie folgt zusammengefasst: „Jeden Tag fand man meinen Bruder in seiner Amtstätigkeit. Eines Tages stellte die Besatzung an ihn die Aufforderung, feindliche Bestimmungen zu veröffentlichen. Mein Bruder weigerte sich ganz entschieden. ‚Herr Bürgermeister, es tut mir leid, wenn Sie meine Bitte nicht erfüllen!‘ Mein Bruder sagte: ‚Ich tue als Deutscher Beamter meine Pflicht!‘ ‚Dann muß ich in der nächsten Woche Freitag zu Ihnen kommen!‘ Mein Bruder entgegnete: ‚Tuen Sie Ihre Pflicht!‘ In der nächsten Woche Freitag stellte sich der Besuch ein und sagte: ‚Herr Bürgermeister, warum sind Sie nicht geflohen? Ich habe Ihnen doch eine Woche Zeit gelassen‘. ‚Meine Pflicht ist es, bei meiner Gemeinde zu bleiben,‘ entgegnete mein Bruder. ‚Tuen Sie Ihre Pflicht!‘ So kam mein Bruder nach Zweibrücken in die Gefangenschaft.“
Als Protest gegen die Verurteilung traten die Kommunalbeamten und Lehrer in einen Streik. Der Gemeinderat von Walsum traf sich am folgenden Samstag im Gasthof Waldschlößchen zu einer dringenden Sitzung und beschloss einstimmig, gegen die Verhaftung und Verurteilung Einspruch zu erheben. Doch alle Maßnahmen halfen nichts: Hoeveler musste die Gefängnisstrafe zunächst in Düsseldorf-Derendorf (bis zum 7. Mai) und dann in Zweibrücken (bis zum 27. Oktober) absitzen. Anschließend musste er das besetzte Gebiet verlassen. Bis zur Wiedereinführung in sein Amt hielt er sich in Wesel auf.
Das Schicksal des Walsumer Bürgermeisters war kein Einzelfall. So wurde zum Beispiel der Beigeordnete der Stadt Dinslaken, Christian Fielenbach, ebenso ausgewiesen wie der Voerder Bürgermeister Ernst Jaeger. Landrat Wilhelm Schluchtmann wurde verhaftet und ins Gefängnis nach Anrath gebracht. Auch der Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres wurde vom belgischen Stadtkommanden für abgesetzt erklärt und zum Verlassen Duisburgs aufgefordert, weil er sich geweigert hatte, den Anordnungen der Besatzungsbehörden Folge zu leisten. Insgesamt sollen während der Besatzungszeit 180.000 Menschen ausgewiesen worden sein.
Der passive Widerstand schadete dem Deutschen Reich enorm: So wurden die Löhne von ungefähr zwei Millionen Arbeitern im Ruhrgebiet vom Staat übernommen. Das bedeutete Kosten von rund 40 Millionen Mark – täglich! Die Regierung ließ immer mehr Geld drucken. Doch bald war das Reich finanziell am Ende. Deshalb verkündete der neue Reichskanzler Gustav Stresemann am 26. September 1923 das Ende des passiven Widerstands. Nun setzte eine gewisse Entspannung in den Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten und dem Deutschen Reich ein. Davon profitierte auch Hoeveler: Er konnte am 14. Januar 1924 nach Walsum zurückkehren und die Amtsgeschäfte wieder aufnehmen.
Im Laufe des Jahres endete auch die Besetzung Walsums: Die belgischen Truppen zogen Anfang November 1924 ab; am 24. November 1924 verließen die letzten belgischen Soldaten den Kreis Dinslaken, zu dem auch Walsum gehörte. Der Kreis zählte jedoch noch bis zum 25. August 1925 zum besetzten Gebiet. Die Freude über das Ende der Besatzung war so groß, dass in der Nacht vom 25. auf den 26. August um Mitternacht die Kirchenglocken läuteten und die städtischen Gebäude flaggten.
Hoeveler blieb bis kurz nach der Machtergreifung der Nazis Bürgermeister. Dann wurde er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ des Amtes enthoben. Am 6. Juni 1933 wurde er pensioniert. Daraufhin zog er nach Wiesbaden, wo er am 10. März 1956 verstarb.
Walsum hat Hoeveler viel zu verdanken. So hat er die Industrialisierung der Landgemeinde vorangetrieben. In seiner Amtszeit wurde unter anderem die Bahnlinie Oberhausen – Hamborn – Walsum – Wesel fertiggestellt (mit dem neuen Bahnhof Walsum), es wurde die Kohleförderung in Wehofen aufgenommen und die Gutehoffnungshütte errichtete ihre Rheinwerft. So stieg die Einwohnerzahl Walsums von 5179 (Volkszählung am 1.12.1905) auf fast 21.000 im Jahre 1930. Aufgrund des Bevölkerungszuwachses entstanden mehrere Siedlungen, wie in Wehofen, Vierlinden und Overbruch. Die Rheinische Post hat in einem Beitrag am 1. April 1980 zurecht geurteilt: „Zahlreiche Bürgermeister haben während ihrer Amtszeit die Entwicklung Walsums maßgeblich mitbestimmt, aber wohl keiner hat der ehemals selbständigen Stadt so deutlich ‚seinen Stempel aufgedrückt‘ wie der erste Bürgermeister Walsums: Johannes Hoeveler.“
Im Jahre 1952 entschied man sich, eine Straße in Aldenrade nach dem ersten Bürgermeister zu benennen. Gemeindevertreter Faltinski erklärte damals, dass die Gemeinde Hoeveler zu Dank verpflichtet sei, da dieser „Walsum das Gesicht gegeben“ habe.